Dieser Beitrag endet mit praktischen Ansätzen (siehe ganz unten). Wer dazu Ergänzungen hat, ist mehr als willkommen 🙂 )
630Tausend – das ist die Zahl der jungen Menschen in Deutschland, die gar nix machen. Die dauerhaft einfach rumhängen. Darunter welche mit oder ohne Schulabschluss. Aber alle ohne Ausbildung. Es sind Jungen oder Mädchen. Die einen leben vom Staat, die anderen von den Zuwendungen ihrer Eltern. Die Analysen, warum das so ist, und warum wir in Deutschland davon besonders betroffen sind, sind im vollem Gange. Doch alle Versuche, die wesentlichen Gründe zu finden, warum es so viele NEETs (Not-in-Education-Employment-or-Training) gibt, scheinen ins Leere zu laufen. Wer Englisch nicht mag – es gibt auch einen deutschen Begriff für diese über eine halbe Million junger Leute: nfQ “nicht formal Qualifizierte”.
Christina Ramb, Verwaltungsratschefin der Bundesagentur für Arbeit (BA), sieht die Gefahr, dass immer mehr Jugendliche mangels Orientierung in kompletter Inaktivität verharren könnten.
Welche Analyse man sich auch anschaut – überall finden wir ein ähnliches Fazit: Die Gründe seien vielfältig, mögliche Lösungswege komplex und es ist weder die eine generelle Ursache noch den ein genereller Lösungsweg auszumachen. Individuelle Ansätze und Angebote wären nötig, um NEET’s oder nfQ’s aus ihrer Inaktivität zu holen.
Ein typischer Artikel in diesem Tenor ist z.B. dieser Welt-Artikel:
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus249207980/NfQ-Das-wachsende-Heer-junger-Menschen-die-sich-von-Arbeit-fernhalten.html?cid=socialmedia.email.sharebutton
Ich werde hier tatsächlich eine Lanze dafür brechen, dass es doch einen Grund – eine dominierende Ursache – für das Problem gibt.
Warum tue ich mir das an? Aus der Überzeugung heraus, dass sich die Auseinandersetzung damit zutiefst lohnt, denn das Problem ist so gravierend , dass es unserem “Geschäftsmodell Deutschland” gefährlich werden könne. Wir haben nun mal keine Bodenschätze wie Norwegen oder Kuwait, wir haben auch keine unternehmerischen Freiheitstraditionen wie die Schweiz oder USA und wir sind auch kein vernetztes globales Zentrum wie Singapur, London oder Taiwan. Statt dessen haben wir produktive, gut ausgebildete Menschen. Auf ihrem Engagement, ihrer Kreativität und ihrem Fleiß basiert unser Wohlstand, und dieser ist nun durch die NEET’s oder nfQ’s gefährdet.
Jetzt fragt ihr Euch natürlich: Was soll der eine Grund für die Inaktivität der Zukunft unseres Landes sein? Was die Ursache der Perspektivlosigkeit von über einer halben Million junger Leute – die niemand sonst erkennen kann oder sehen möchte?
Here we go:
100% aller NEET’s, die mir über den Weg gelaufen sind, haben eine Sache gemeinsam – und wenn du welche kennst, kann du ja prüfen, ob sich das mit Deiner Wahrnehmung deckt: Ihre Gemeinsamkeit ist, dass sie aus Häusern oder Wohnungen kommen, in denen Schlafen, Essen und Erholen praktiziert wurde – und ansonsten sehr wenig. Es sind Häuser ohne Werkstatt, ohne Kreativ-Schuppen, ohne einen Garten zur Ernährung der Familie, ohne Motorsäge und Spalthammer, ohne Kaminofen, Schlachtraum — oder irgendetwas, das in Sachen Lebenspraxis, Eigenständigkeit oder Unabhängigkeit über einen Rasenmäher und eine Heckenschere hinausgehen würde.
Damit soll keinesfalls ausgesagt werden, dass alle Kinder, die in solchen Häusern aufwachsen, zu NEET’s werden müssen, oder auch nur eine große Wahrscheinlichkeit aufweisen, in Inaktivität zu verfallen. Tatsächlich kenne ich viele junge Menschen, die aus solchen Haushalten kommen und zu fröhlichen, produktiven und sinnerfüllten Mitgliedern der Gesellschaft wurden – oder dabei sind es zu werden.
Und dennoch ist es so, dass tatsächlich alle NEET’s, die mir bekannt sind, aus dem erwähnten Umfeld kommen.
Und der Umkehrschluss funktioniert genauso: Familien, in denen handwerkliche Fähigkeiten im direkten Umfeld des häuslichen Lebens eingeübt werden bringen nach meiner Beobachtung keinen einzigen NEET hervor. Dabei meine ich mit “Einüben” das praktizieren lebenspraktischer Arbeiten in Verbindung mit einem Bewusstsein von Verantwortung fürs eigene Leben und für das eigene Wohlergehen durch persönliches Engagement und Eigentum. Ob dies dann mit oder ohne Schulabschluss, ausgebildet oder nicht geschieht – jeder, der aus einem Selbermacher-Umfeld mit Verantwortung fürs eigene Leben und für die eigenen Ressourcen kommt, macht irgendwas, um sich selbst über Wasser zu halten – gelernt oder ungelernt, effektiv oder weniger effektiv.
Also: 100% der NEET’s kommen aus Schlaf/Esssen/Erholungs-Wohnungen/Häusern, 0% kommen aus Familien, in denen zwischen Leben und Broterwerb in Verbindung mit einer klaren Sicht für Verantwortung und Eigentum ein natürlicher, klarer, örtlicher und logisch erfassbarer Zusammenhang gelebt und anerzogen wurde.
Jetzt kannst du selbst prüfen: Wie sieht das in deinem Umfeld aus? Ist diese Beobachtung für dich nachvollziehbar?
Demnach stellt dich die Sachlage folgendermaßen dar: Der Mensch ist einfach nicht dazu gemacht, in einem ‘neutralen’ Raum aufzuwachsen, der nur als Essen, Schlafen und Wohnen besteht. Es ist nicht leicht für jeden jungen Menschen, in einem solchen Umfeld einen motivierenden oder begeisternden Startblock für sinnerfülltes (Erwerbs-) Leben zu erkennen. Und es reicht offensichtlich auch nicht, die nötigen Anstösse dann künstlich als kleine, wohldosierte Häppchen vorgesetzt zu bekommen: In Form eines Schulpraktikums, eine Schulgartens oder einer Sozial- oder Vereinsinitiative. Auch eine Orientierungsreise nach erfolgreichem Schulabschluss ist solch ein Happen – wie viele junge Leute kommen zurück aus ihrem Work-und-Travel-Aufenthalt und sind genauso orientierungs- und perspektivlos wie zuvor?
Sicher sind die “Häppchen” besser als gar nix – doch kein Ersatz fürs reale Leben. Das “echte Leben” besteht aus wirklichen Begegnungen mit realen Zusammenhängen – die zu spürbaren Konsequenzen führen – und diese Prozesse finden am effektivsten in Verbindung mit Eigentum und Verantwortung statt.
Das soll an einem schlichten und vielleicht etwas skurrilen Beispiel deutlich werden: Wir haben bei uns am Ort eine recht große Grundschule – mit einem völlig verwahrlosten, verunkrauteten Schulgarten. Was bedeutet dieses Stück Land im Zusammenhang des realen Lebens? Die Antwort ist: NICHTS – und das ist das Problem.
Gehen wir ins Detail: Gibt es einen einzigen Lehrer oder ein einziges Kind, das auch nur ein Blatt weniger knackigen Salat oder nur eine gesunde Mohrrübe weniger konsumieren kann, wenn der Schulgarten verwahrlost liegen bleibt? Nein. Es hat NULL – ZERO spürbare Konsequenz, ob dieser bearbeitet wird oder verwahrlost. Die einzig überhaupt denkbare Konsequenz ist vielleicht ein Tagesordnungspunkt auf dem Zettel der Lehrerkonferenz fürs neue Schuljahr. Was für ein kranker Lerneffekt für Lehrer und erst recht für Schüler. Sie lernen, bewusst oder unbewusst: Es ist völlig bedeutungslos, wem dieser Garten gehört, wer Verantwortung dafür trägt und ob dieser Garten bewirtschaftet wird oder verwahrlost – das Essen kommt woanders her, wird woanders bezahlt und wird woanders zubereitet. Und alle bekommen es sowieso. Es hat nichts, aber auch gar nichts mit diesem Garten oder meinem Engagement darin zu tun.” Wahrscheinlich sogar mit der Steigerung: “…mir gebührt schon Dank und Anerkennung dafür, dass ich die Leistung erbringe, überhaupt gesundes Zeug zu essen.”
Natürlich soll damit nicht gesagt werden, dass Kinder in Schulen hungern sollten, wenn der Schulgarten mal nichts abwirft. Die Aussage, um die es geht, ist eine andere: Wie viele Elemente wie dieses vernebeln in unserer westlichen Welt auf sträfliche Weise die entscheidenden Zusammenhänge – und stiften so unsere Heranwachsenden dazu an, gedankenlos in einer beliebigen realitätsfernen Blase zu leben und am Ende gar nichts mehr zu machen?
Jetzt könnte man natürlich sagen: ok, das ist ein Punkt – aber was daran ist daran Ideologie – warum diese Überschrift?
Tatsächlich ist die Idee, Arbeits- und Erwerbsleben und Wohnen/Erholen so strikt voneinander zu trennen, dass es sogar ordnungsrechtlich vorgeschrieben wird (Wohngebiet/Gewerbegebiet) nicht geschichtlich gewachsen. Es ist auch keine natürliche Entwicklung, die zu diesem Ergebnis geführt hat – es handelt sich um eine westliche Ideologie, die an anderen Kulturen, z.B. im globalen Süden, nicht besonders verbreitet ist.
Die Ideologie der strikten Trennung von Arbeits- und Wohnumfeld hat zwei Stränge: Einmal der aus Amerika herübergeschwappte Traum der suburbanen Vorstadtvilla (verbunden mit Namen wie Harriet und Catharine Beecher, John P. Dean oder Svend Reimer) und zum zweiten der sozialistische Traum aus Schweden, der uns Wohnblöcke in Verbindung mit gemeinschaftlich nutzbaren Anlagen für die Freizeit beschert hat (verbunden mit Namen wie Alva und Gunnar Myrdal und Sven Markelius). Obwohl diese beiden Stränge extrem unterschiedlich sind, haben sie diese eine Gemeinsamkeit: Beide trennen das Leben künstlich auf. In Wohnen und Arbeiten. In eine Schlaf, Erholungs- und Essenssphäre einerseits und in eine weit entfernte Sphäre der Erwerbstätigkeit andrerseits. Und diese Aufspaltung führt in der zweiten Generation dazu, dass immer mehr junge Menschen nur noch eine Sphäre kennenlernen – und das ist nicht die der Arbeitswelt. Natürlich könnte man sagen, dass es sich einfach um Konsequenzen der industriellen Revolution handelt – Arbeit findet halt seitdem woanders statt. Aber das wäre zu kurz gegriffen, denn es erklärt nicht das ordnungspolitische, steife Festzurren der unterschiedlichen Sphären in der Folge.
Wie sehr diese Trennung schon in unsere Köpfe gekrochen ist, zeigt folgendes Beispiel eines Lehrers an einer dieser Schulen, die Jugendliche, die eigentlich mit der Regelschule schon fertig sind, an das Berufsleben heranführen sollen. Es ist eine wahre Begebenheit: Ich fragte diesen Lehrer, wie oft er mit seiner Klasse in Betriebe gehen würde? Die Antwort: “Gar nicht mehr! Es ist einfach zu aufwändig, all die Zettel und nötigen Versicherungsbelege auszufüllen – für einen einzigen Besuch in einem Betrieb – deshalb hab ich das jetzt ganz eingestellt!”
Wie krank ist ein System, das einen Lehrer eines Berufskollegs durch Bürokratie davon abhält, mit der Klasse in Betriebe zu gehen? Gesund wäre, ihn Zettel und Belege für jeden Tag ausfüllen zu lassen, an dem er mit seiner Klasse NICHT in einem Betrieb ist – und er müsste eine Gehaltserhöhung bekommen, für jeden Schüler, der nach dem Besuch im Betrieb gar nicht mehr mitkommt in die Schule, weil er direkt dort im Betrieb hängengeblieben ist. Was könnte aus so einem Jugendlichen werden, wenn das möglich wäre?
Aber so können wir nicht mehr denken – die oben beschriebene Trennung wurde so sehr in unsere Köpfe eingefräst, dass es wohlüberlegter Schritte und ausgeklügelter Formalien bedarf, von einer Sphäre in die andere zu wechseln. Wir leben eine Ideologie und merken es nichtmal mehr!
Allerdings gibt es ein paar Hoffnungsschimmer: Seit der Corona-Pandemie leben mehr Menschen durch die Möglichkeit des Home-Office eine ganzheitlicheren Ansatz. Aber mehr ist denkbar, hier ein paar Tipps;
- Wer überlegt, mit Kindern seinen Wohnort zu wechseln: Wähle, wenn Du kannst, kein reines Wohngebiet, ziehe besser in ein Mischgebiet, in dem mehr möglich ist. Gönne Deinen Kindern das Großwerden in einem ganzheitlicheren Kontext.
- Du planst, Anzubauen? Plane je nach Deiner Neigung die Garage oder den Anbau grösser und füge eine Werkstatt oder eine Profi-Küche hinzu. Gerne mit einem professionellen Ansatz. Hab keine Angst vor Hygieneregeln: Viele Restaurants haben schrecklich kleine Küchen, und können die Vorgaben des Gesundheitsamtes trotzdem einhalten. Wenn man von vornherein damit plant, ist es nicht so teuer und klappt auch in beengten Verhältnissen. Dann kannst Du im Herbst losziehen und mit Deinen Kindern Hagebutten sammeln, lecker Marmelade kochen und verkaufen. Für die Kleinen vielleicht ihre erste Berührung mit dem Erwerbsleben!
- Für weitere praktische Vorschläge von meinen Lesern ist hier der Platz, bitte meldet Euch, wenn Ihr gute Ideen habt… …und hier schon die erste super Idee – so einfach, so überraschend – und eine echte Möglichkeit, die oben beschriebene Trennung zu überwinden:
- Hallo Bernd, dein Blog wirkt fundiert. Ich denke auch, dass ein Mensch, der ohne eigene Verantwortungsbereiche und damit ohne Selbstwirksamkeit aufwächst, es sehr schwer hat eines Tages Freude und Befriedigung an Arbeit zu finden. Eine Hilfe auf diesem Weg sind übrigens auch die Hausaufgaben, die durch die Schule bereitgestellt werden. Wir haben einige Kinder, die nur in einer kleinen Wohnung aufwachsen, aber ihre Schulaufgaben als wichtige Arbeit betrachten. Wenn sie erleben, wie ihre Noten durch ihren Fleiß besser werden, wächst ihre Motivation weiter zu machen. Solche Kinder werden ziemlich sicher einmal eine gute Ausbildung anstreben. Es gibt immer wieder Diskussionen um Hausaufgaben. Viele würden sie gerne ganz abschaffen. Aus meiner Sicht wiederholen die Kinder dadurch nicht nur ihren Lernstoff, sondern sie lernen auch Verantwortung für ihr Weiterkommen zu übernehmen…
Noch ein Kommentar:
“Hallo Bernd, steile These, die du da in deinem Blog aufstellst. Aber durchaus beachtenswert. Interessant dazu ist auch, dass die Generation Z ja nicht mehr die Work-Life Balance auf der Agenda hat, sondern die Work-Life Separation (laut Prof. Dr. Christian Scholz von der Universität Saarland)
Liebe Grüße und kommt gut ins Neue Jahr.”