Die Toten ehren – indem man die Lebenden liebt

Um mich herum sterben Menschen. Seit Ende lezten Jahres sind fünf Persönlichkeiten aus meinem Umfeld gegangen – begonnen hat es mit meinem Nachbarn, einem Kapitänleutnand, der an Conrona gestorben ist. Der Letzte nun war Jurist und Landwirt, mit dem gut beten konnte – was Ina und ich auch häufiger getan haben. Dazwischen zwei hochbetagte Nachbarinnen und ein Mann, der im buchstäblichen Sinne meilenweit ging, um andere Menschen von seinem Glauben zu überzeugen.

Jeder dieser Tode berührt mich – und weil die Umstände sehr unterschiedlich waren, ist es eine gefühlsmässige Berg- und Talfahrt zwischen Trauer, Verlustgefühl, Mitleid mit den Hinterbliebenen und Erleichterung, weil der Tod auch Erlösung sein kann – wie bei zwei von den Fünfen.

Gerne nehme ich dich, lieber Leser, hinein in einige Gedanken über Tote und Lebende, wenn du möchtest:

Die Bibel sagt nicht viel darüber aus, was mit uns geschieht, wenn wir sterben – und das Wenige wird in Bildersprache ausgedrückt. So auch Jesus im 14. Kapitel des Johannesevangeliums: “Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich! Im Haus meines Vaters sind viele Wohungen; wäre es nicht so, hätte ich Euch dann gesagt: Ich gehe, um euch eine Stätte zu bereiten?”

Das ist bildliche Sprache – wir benutzen sie, wenn wir keine Worte finden können – oder wenn unsere Zuhörer keine Worte dafür haben. Und das gilt in besonderer Weise für den Tod: Der Tod markiert einen tiefen, unüberwindlichen Graben zwischen uns und etwas anderem. Törichte Menschen ignorieren das, Weise bereiten sich vor. Jesus hilft dabei – möchte trösten, inspirieren, Ausblick geben – doch die Worte fehlen. Deshalb benutzt er bildliche Sprache.

Es wäre anmaßend, Jesus gegenüber den Besserwisser zu spielen, deshalb soll der Aspekt des “Lebens nach dem Tod” hier ganz dem Glauben jedes Einzelnen überlassen bleiben. Wir schauen uns im Folgenden etwas von dem an, das wir ergründen können – also die Aspekte um Leben und Sterben, die sich auf unserer Seite des tiefen Grabens abspielen.

Hier auf Erden ist jeder von uns verbunden und verwoben mit einer Menge anderer Leute: Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Töchter und Söhne, Freunde und Nachbarn, Kollegen – und Menschen, denen wir irgendwie begegnen. Im Sportverein, in der Kirche, im Fitnessstudio oder auf dem Markt.

Jeder dieser Menschen ist eine Gelegenheit. Jeder und jede Einzelne hat eine Seele – hat etwas vom Atem Gottes. Wem immer wir begegnen, mit wem immer wir uns austauschen – wir lassen etwas von uns bei ihnen – und sie lassen irgendetwas von sich bei uns.

Auf diese Weise gestalten wir im Laufe unseres Lebens die Welt um uns herum. Wir bauen etwas auf, das nach uns geformt ist. Du, lieber Leser beeinflusst duch dein Sein die Umgebung, in der du lebst – und das, was Du erschaffst, wird weiter Bestand haben – noch immer, nachdem Du gestorben bist.

Auch das kann man in Bildersprache ausdrücken – diesmal nicht, weil uns die Worte fehlen – sondern weil es einfach mehr Spaß macht:

Das Leben ist wie eine Suppe: Die Welt ist das Wasser, mache Leute sind wie Salz oder Gewürz – und geben ihren Geschmack dazu. Andere sind wie Fleichsstücke, Kartoffelhappen oder Möhren – man spürt sie wirklich. Doch ohne die, die einfach nur den Geschmack gestalten ohne selbst aufzufallen, wäre die Suppe ziemlich fade. Aus der Gesamtkomposition kommen Geschmack und Nährwert für alle.

Mein Vater z.B. war keinesfalls perfekt, aber er war ein Tüftler und Denker und jemand, der über Grenzen ging, wenn er sich in etwas verbissen hatte, wofür er eine Lösung finden wollte. Er ist jetzt längst in einer dieser Wohnungen, die Jesus uns vor Augen gemalt hat, aber ich spüre, wie die oben genannte Eigenschaft in mir weiterlebt.

Jeder könnte von Menschen berichten, die das eigene Leben zutiefst beeinflusst haben – und natürlich gibt es auch Leute, von denen etwas Ungutes in uns bleibt. Sie hinterlassen die Herausforderung, diese Wunden nicht als immer zu pflegende, eiternde Flader rumzuschleppen – sondern sie gesund vernarben zu lassen. Aber daran wollen wir uns jetzt nicht aufhalten.

Ich hatte Lehrer, die sich in mich investiert haben. Einiges von dem, das ich von Ihnen lernen durfte, konnte ich anderen weitergeben. So lebt etwas von ihnen in mir und in den Menschen, die ich lehren durfte und lehren darf.

Als wir vor fast 30 Jahren unsere Flitterwochen auf unserer einsamen Berghütte verbrachten, besuchte ich mit meiner jungen Frau eine benachbarte Bergbäuerin und bat sie, meiner Liebsten beizubringen, wie man einen Reindling backt (Kärntner Gebäck, ungefähr zwischen Panettone und Gugelhupf). Obwohl meine Frau damals so gut wie kein Deutsch sprach und kärntnerisch sowieso nicht, nahm sich die Bergbäuerin ihrer an und erklärte ihr geduldig die Herstellung des Kärntner Reindlings. Meine junge Frau fühlte sich auf dem Berg willkommen – bis heute – und aus dieser Begebenheit entwickelte sich eine wunderbare Freundschaft. Ausserdem bekomme ich seitdem jedes Jahr im Urlaub den Kuchen, liebevoll selbstgebacken. Ende Januar ist diese liebe Bergbäuerin verstorben – doch für uns wird sie unvergessen bleiben.

Wenn jemand geht, dann bleibt etwas, das diese Person geformt und geschaffen hat, zurück in unserer Welt. Verstorbene hinterlassen kein Vakkuum, keine Leere – denn etwas von ihnen bleibt unter uns – auch wenn wir den wichtigsten Teil von ihnen erstmal verloren haben.

In diesem Sinn kann man Trauer verstehen und mit ihr umgehen: Wir haben einen Menschen verloren – wir werden Menschen verlieren. Der Schmerz, den wir spüren, zeugt davon, dass sie immernoch existieren. Das Maß unserer Trauer ist auch ein Maß dafür, wie viel sie uns von sich gegeben haben. Wenn das stimmt, dann passt auch der letzte Satz, den ich mit Vorsicht und ein bißchen Misstrauen tippe, weil er kühn ist: So sehr es auch schmerzt, jemand zu verlieren – in Wirklichkeit wollen wir kein bißchen weniger davon.

Mit diesen Gedanken grüsst Euch aus dem brutalen Ostwind im Norden

Euer Bernd

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