Seid umschlungen, Millionen…

…dieser Kuss gehört der Welt. So dichtete Friedrich Schiller vor knapp 250 Jahren. Aus diesem Gedicht, das Beethoven vertonte, wurde unter dem Titel “An die Freude” die Nationalhymne Europas. Die Ideen, die diesem Werk zugrunde liegen, wurden zu den grundlegenden Idealen Europas: Offene Grenzen und die Brüderlichkeit aller Menschen. Der Zauber der Freude verbindet, überwindet alle Teilungen und Menschen werden Brüder. Als Angela Merkel unsere Grenzen für Flüchtlinge öffnete, handelte sie ganz in diesem Geist.

Heute hören wir viel von Mauern. Europa perfektioniert seine Cybermauern und Firewalls, um russische und chinesische Staatshacker und andere unangenehme und schädliche Zeitgenossen aussenvor zu halten. Donald Trump möchte sein Land Richtung Süden abriegeln, um Wirtschaftsflüchtlingen aus Zentralamerika keinen unkontrollierten Zugang zu ermöglichen.

Das ist unsere Gelegenheit, die Idee von Mauern anhand der Bibel zu überprüfen. Jenseits aller Aufgeregtheit. Mein Zugang zum Wort Gottes ist die grundsätzliche Annahme, dass es sich hierbei um seit Jahrtausenden erprobte Wahrheit handelt, die zwar hin und wieder missbraucht wurde, jedoch in der Summe unglaubliche Erfolgsgeschichten ermöglich hat.

In der Bibel spielt die Idee der Abgrenzung eine große Rolle. Von den 66 Büchern der Heiligen Schrift ist ein ganzes Buch (!) dem Mauerbau gewidmet. Es ist das Buch Nehemia – gerade in dieser Zeit eine sehr empfehlenswerte Lektüre. Ich wundere mich, dass unsere wichtigen Theologen und die großen Kirchen so wenig über dieses Thema von der Bibel her sprechen. Hier ist der Platz dafür:

“Gott hat das ganze Menschengeschlecht geschaffen, damit es die Erde bewohnt, so weit sie reicht. Er hat die Grenzen ihrer Wohnstätten festgelegt.” So Paulus sinngemäß in seiner Rede auf dem Areopag (Apostelgeschichte Kap. 17 Vers 26). Hier bündeln sich wie in einem Brennglas biblische Wahrheiten über Weite und Großzügigkeit einerseits und Grenzen mit Mauern andrerseits: Gott ist ein Gott der Weite. Er vertraut uns seine ganze Schöpfung an. Zu unserer Freude, um sie zu entdecken und nutzbar zu machen, um verantwortlich mit ihr umzugehen und sie gemeinsam zu genießen. Auf der anderen Seite sind Grenzen erforderlich. Der Grund? Die Menschheit als Ganzes hat keine absoluten gemeinsamen Werte, akzeptiert keine “eine Wahrheit” – die Welt ist eher wie ein großer Markt der Möglichkeiten, die miteinander im Wettstreit liegen. Nur ein Beispiel: Für Chinesen ist es eine Ehre, die guten Ideen anderer aufzunehmen und zu kopieren. Für uns in Europa ist es ehrenvoll, die guten Ideen anderer zu achten und wie persönliches Eigentum zu schützen. Da diese beiden Ansätze nicht vereinbar sind, ist Europa derzeit massiv dabei, gesetzliche Mauern zu erreichten, um geistiges Eigentum und europäische Innovationskraft zu verteidigen.

Was ist mit Mauern gegen Menschen? Das Wort Gottes kennt Mauern zum Schutz, nicht aus Hass. Jemand sagte kürzlich “Wir errichten keine Mauern, weil wir andere hassen, sondern weil wir die Menschen, die wir damit schützen, lieb haben”. So ist auch das Mauer-Buch der Bibel, Nehemia, zu verstehen.

Dennoch sind die verschiedenen Mauern (wirtschaftliche, rechtliche oder die Personenfreizügigkeit betreffende) nicht so unterschiedlich wie das scheint. Menschen sind zutiefst geprägt von ihrer jeweiligen Gesellschaftsordnung. Und die Gesellschaftsordnungen dieser Welt liegen im Wettstreit miteinander. Solange der nicht mit kriegerischen Mitteln ausgetragen wird, sondern fair vonstatten geht, ist das nichts Schlechtes: denn nur so offenbaren sich Irrwege oder zeigt sich, was das Zeug zur Erfolgsgeschichte hat. Scheitert nun ein Gesellschaftssystem so grandios, dass sich seine Teilnehmer zur Flucht entscheiden, kommt die Grenze oder Mauer ins Spiel: Sie ist es, die den Flüchtenden damit konfrontiert, dass er nun sein altes Gesellschaftssystem verlässt und ein anderes betritt. Dass von jetzt an andere Regeln herrschen, dass in einer anderen Sprache gesprochen wird und dass er nur dann willkommen ist, wenn er sich in das neue Gesellschaftssystem einfügt.

Idealerweise stehen an der Grenze Menschen, die das abfragen. Oder einer Gesellschaft gelingt es, auf andere Weise klar zu machen, dass ab dieser Grenzlinie ein bestimmter Konsens unter Menschen herrscht, der als Grund dafür angesehen wird, dass dieses Gesellschaftssystem erfolgreicher ist als das, aus dem der Migrant fliehen musste.

Der Staat Israel im Alten Testament hatte kein Grenzregime, aber eine Gesetzgebung, die sehr intensiv auf das Zusammenspiel des Fremden mit dem Einheimischen einging. Statt mit einer physischen Mauer schaffen sie es, ihre Werte und Gesellschaftsnormen in der Gesetzgebung so deutlich zu machen, dass niemand im Unklaren darüber blieb, wie die Spielregeln waren. Auf den so gesetzten Grundlagen konnten sie jeden Fremden willkommen heißen, ohne dass dadurch ihr eigenes, erfolgreiches Gesellschaftssystem in Frage gestellt wurde. Aus dieser Tatsache kann man ableiten, dass eine physische Mauer die primitive Lösung für ein Problem ist, für das es vor Jahrtausenden bereits elegantere Lösungsansätze gab.

Nicht weit von dem Platz, an dem ich diese Zeilen schreibe, ist eine Grenze. An der Grenzlinie stehen Paramilitärs, also Bürger in Uniform, die jedem Vorbeifahrenden in die Augen schauen und darüber entscheiden, ob die Polizei (die auch zugegen ist) direkt eine Kontrolle durchführen wird. Wer als Flüchtling hier einreist, ist sich bewusst, dass er eine Sprache lernen muss, die von nur fünf Millionen Menschen gesprochen wird. Es hat sich auch herumgesprochen, dass direkt mit der Einreise für jeden Flüchtling eine volle 38-Stunden-Woche der Integration beginnt.

Auf diese Weise versucht ein kleines Königreich, Grenzen zu ziehen und jedem deutlich zu machen, dass hier ein anderes, offensichtlich erfolgreiches Gesellschaftssystem vertreten wird, von dem einige Aspekte als Kompromisslos betrachtet werden. Ich sage nicht, dass diese Vorgehensweise der Weisheit letzter Schluss ist – aber ich sehe, wie intensiv die Bibel mit diesem Thema umgeht, und wie das Wort Gottes uns damit ermutigt, den Dingen nicht einfach ihren Lauf zu lassen. Auch wir werden nicht umhin kommen, hier bei uns mit dieser Thematik zu ringen, um irgendwann zu einer klaren Lösung zu finden. Die Alternative ist die Auflösung unserer Gesellschaft. Damit wäre jedoch keinem gedient – weder uns, noch den Flüchtlingen – denn wo sollten die dann hin? Wer jetzt Lust hat, zur Flüchtlingsproblematik mal etwas Ermutigendes zu lesen: Ich empfehle eine erfolgreiche Migrantengeschichte. Lesen Sie das biblische Buch “Rut”. Spannend, romantisch und ganz nah am Thema.

In diesem Sinne grüßt Euch ein nachdenklicher, aber hoffnungsfroher

Bernd Kollmann

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